“Digitale Lagerverwaltung birgt enorme Potenziale” — Experten-Interview

 
Gerade kleinere Mittelständler klagen häufig über ineffiziente Lagerprozesse und mangelnde Transparenz im Bereich der Lagerverwaltung. Durch digitale Lagerverwaltung lassen sich solche Probleme beheben. Zugleich verbessert sich die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit des Unternehmens – sagen die Experten Günter Dietze und Kira Schmeltzpfenning vom Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML.
 
Viele kleine Mittelständler (Unternehmen mit bis zu ca. 100 Mitarbeitern) steuern die Prozesse ihrer Lagerwirtschaft noch auf Zuruf und mithilfe von Excel-Listen. Zu welchen Problemen kann das führen?

Kira Schmeltzpfenning: Es ist kaum zu glauben, aber Excel in Kombination mit dem Erfahrungswissen langjähriger Mitarbeiter ist tatsächlich häufig noch die Lagersteuerung der Wahl vieler kleiner Unternehmen. Die Vorgehensweisen und Schwierigkeiten, die wir in diesen Lagern sehen, sind immer wieder die gleichen: Kundenaufträge werden direkt oder in Form von Kommissionierlisten ausgedruckt, manuell sortiert und dann von den Mitarbeitern bearbeitet. Ob tatsächlich ausreichende Ware im Lager vorhanden ist und diese Ware auch auffindbar ist, stellt sich immer erst nach der Kommissionierung heraus. Befindet sich auf dem Kommissionierplatz keine Ware, so wird diese auf Zuruf angefordert. Unvollständige Aufträge werden bestenfalls zur Seite gestellt, um fehlende Ware nachträglich zu suchen – oder der Kunde kann nicht vollständig beliefert werden.

 

“Digitalisierung muss nicht zwingend mit Automatisierung einhergehen. Gerade in manuell bedienten Lagern mit Fachboden- und Palettenregalen bergen eine gezielte Datenerfassung und optimierte Materialflusssteuerung mittels LVS große Potenziale.”
(Kira Schmeltzpfenning)

 

Günter Dietze: Zudem erfolgt die Identifikation der Ware bei der Kommissionierung manuell durch die Mitarbeiter, indem die Artikelbezeichnungen bzw. die Artikelnummern mit der gedruckten Kommissionierliste abgeglichen werden. Abweichungen der Mengen werden schriftlich notiert und vollständige Positionen werden “abgehakt”. Pickfehler werden dabei selten erkannt und behoben. Selbst eine zweite, zeitaufwendige Kontrolle im Verpackungs- oder Versandprozess findet viele Pickfehler aufgrund des manuellen Abgleichs nicht. Fehlmengen werden zwar meist bemerkt, aber erst mit starker zeitlicher Verzögerung dem Einkauf, dem Vertrieb oder der Disposition mitgeteilt.

Kira Schmeltzpfenning: Der doppelte Medienbruch bei der Kommissionierung (Aufträge drucken, Ergebnisse der Kommissionierung wieder eintippen) eröffnet dabei weitere Fehlerquellen: Beispielsweise werden Abweichungen der Kommissionierung in der falschen Zeile notiert oder falsche Werte abgetippt.

Günter Dietze: Kunden beurteilen ihre Lieferanten neben der Qualität und dem Preis der Ware hauptsächlich nach der Lieferfähigkeit und der Korrektheit der Lieferungen. Und hier schneiden Lager, die mit Excel und Papier gemanagt werden, aus den genannten Gründen oft sehr schlecht ab.

 

Kira Schmeltzpfenning
Kira Schmeltzpfenning ist Mitarbeiterin des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik IML in Dortmund. Die Diplom-Wirtschaftsingenieurin beschäftigt sich insbesondere mit der Prozess- und Strategieberatung für die Einführung von Warehouse-Management-Systemen.

 

Welchen Nutzen bietet die Digitalisierung der Lagerwirtschaft kleinen und mittleren Unternehmen?

Kira Schmeltzpfenning: Digitale Lagerverwaltung unterstützt Unternehmen nicht nur im operativen Bereich direkt auf dem Shop Floor, sondern birgt auch darüber hinaus enorme Potenziale. Die digitale Erfassung und Kontrolle der Wareneingänge mit Scannern ermöglicht eine schnelle und sichere Abrechnung mit den Lieferanten. Die Lagerplatzfindung eines Lagerverwaltungssystems, kurz: LVS (engl. Warehouse Management System), und die sofortige Buchung der eingelagerten Ware führen zu einer zeitnahen Bestandsinformation.

Auch der Status der Ware (z. B. QS-Ware, beschädigte Ware) ist dem System bekannt. So kann ein übergeordnetes Auftragserfassungs- und -bearbeitungssystem (ERP, Warenwirtschaftssystem) sofort auf Fehlbestände reagieren und gegenüber dem Kunden kann schon vorab eine verlässliche Aussage über die Lieferfähigkeit getroffen werden. Dadurch steigt der Lieferservicegrad (Available-to-promise) des Unternehmens automatisch.

Einkauf und Vertrieb müssen nicht mehr regelmäßig zur Kontrolle ins Lager, da sie im LVS jederzeit vollständige, korrekte und zeitnahe Informationen über Lagerbestände, Arbeitsfortschritte und den Bearbeitungsstatus jedes einzelnen Auftrags einsehen können. Eine Kundenfrage nach dem Bearbeitungszustand lässt sich dann zum Beispiel so beantworten: “Ihr Auftrag wurde bereits vollständig kommissioniert und befindet sich aktuell in der Verpackung. Ihr Auftrag wird heute noch versendet.” Eine solche Antwort kann auch automatisiert per E-Mail versendet werden, da alle Bearbeitungsschritte im Lager digital erfasst werden.

 

“Ein Lagerverwaltungssystem liefert eine Vielzahl von relevanten Kennzahlen aus dem Lager und ermöglicht dem Unternehmen damit eine effiziente Mitarbeiter- und Ressourcenplanung.”
(Kira Schmeltzpfenning)

 

Günter Dietze: Auch bei der Auftragsfreigabe können eine erneute Prüfung auf Lieferfähigkeit und eine Sortierung der Kundenaufträge nach Auslieferungssollzeit, Versandart, Tour und weiteren Kriterien erfolgen. Eilaufträge können durch einen Mausklick priorisiert werden. Und größere Aufträge lassen sich durch mehrere Mitarbeiter parallel bearbeiten, wodurch sich die Durchlaufzeit des Auftrags drastisch verkürzt.

Auch können Aufträge systemgestützt zusammengefasst und gleichzeitig durch einen Kommissionierer bearbeitet werden (Multi-Order- Picking).  Nachschubaufträge zum Auffüllen der Kommissionierplätze können rechtzeitig beauftragt werden, sodass der Kommissionierer keine leeren Plätze mehr anfahren muss.

Kira Schmeltzpfenning: Ein weiterer Vorteil eines LVS besteht darin, dass man von der personalintensiven Stichtagsinventur zu einer permanenten Inventur, bei der das Lager nicht stillgelegt werden muss, umsteigen kann. Fast schon nebenbei liefert ein Lagerverwaltungssystem eine Vielzahl von relevanten Kennzahlen aus dem Lager und ermöglicht dem Unternehmen damit eine effiziente Mitarbeiter- und Ressourcenplanung.

 

Günter Dietze
Günter Dietze ist Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik IML in Dortmund. Zu den Themenschwerpunkten des Diplom-Informatikers zählen Warehouse-Management-Systeme und ihre Einbettung in die IT-Systemlandschaft.

 

Im Unterschied zu Großunternehmen und Konzernen können die meisten KMU eine weitreichende Automatisierung ihrer Lagerlogistik finanziell nicht stemmen. Welche Möglichkeiten haben Unternehmen mit schmalerem Budget, ihre Lagerprozesse dennoch effizienter zu gestalten? 

Kira Schmeltzpfenning: Digitalisierung muss nicht zwingend mit Automatisierung einhergehen. Gerade in manuell bedienten Lagern mit Fachboden- und Palettenregalen bergen eine gezielte Datenerfassung und eine optimierte Materialflusssteuerung mittels LVS große Potenziale. Um Probleme im Lager zu lösen, muss man sie jedoch erst einmal erkennen. Hierfür ist es sinnvoll, zunächst seine Lagerabläufe und Prozesse auf den Prüfstand zu stellen und nötigenfalls auch alte Zöpfe abzuschneiden.

Günter Dietze: Auch ein Lagerverwaltungssystem kann immer nur so gut sein, wie die Prozesse, die es abbilden soll. Daher empfehle ich: Führen Sie zuerst eine Schwachstellenanalyse Ihres Informations- und Materialflusses durch und definieren Sie Sollprozesse. Betrachten Sie dabei auch Ihre zukünftige, geplante Unternehmensstrategie. Wollen oder müssen Sie den Bereich E-Commerce ausbauen? Sollte Ihre Produktion – zumindest bezüglich der Materialversorgung und -entsorgung – mit digitalisiert werden? Verlangen die Kunden kürzere Reaktions- und Lieferzeiten? Wie entwickelt sich der Markt? Und wie entwickeln sich die Wettbewerber?

 

“Die Einführung der digitalen Welt im Lager muss als ein Projekt angesehen werden, das man nicht einfach so nebenbei abwickelt.”
(Kira Schmeltzpfenning)

 

Kira Schmeltzpfenning: Das Ergebnis der Bestandsaufnahme sollte in ein Lastenheft einfließen. Dieses beschreibt, was das künftige LVS können muss. Im nächsten Schritt holen Sie Angebote für die Realisierung des Projekts ein. Gemeinsam mit dem ausgewählten Softwareanbieter erstellen Sie dann das Pflichtenheft, welches klärt, wie die Anforderungen und Prozesse des Lastenhefts für Ihr Lager ungesetzt werden sollen.

Bedenken Sie, dass die Einführung der digitalen Welt im Lager als ein Projekt angesehen werden muss, das man nicht einfach so nebenbei abwickelt. Befreien Sie die involvierten Mitarbeiter zumindest teilweise von der normalen Tagesarbeit, damit sie ihren Beitrag zum Projekt leisten können. Und scheuen Sie sich nicht, externe Experten hinzuzuziehen.

 

Digitale Lagerverwaltung Handscanner

Digitale Lagerverwaltung: Die Erfassung und Kontrolle der Wareneingänge mit Scannern ermöglicht eine schnelle und sichere Abrechnung mit den Lieferanten.

 

Inwieweit wird es künftig auch für KMU im Umfeld der digitalen Transformation immer wichtiger werden, Lagerprozesse zu digitalisieren? Welche Auswirkungen hat dies auf die Unternehmen?

Günter Dietze: Insbesondere durch den wachsenden E-Commerce steigt der Druck auf die Unternehmen, stets und kurzfristig lieferfähig zu sein und dem Kunden immer schneller verlässliche Auskünfte erteilen zu können. Der dadurch bedingte Trend hin zu Omnichannel-Strategien erhöht auch die Anforderungen an die Logistik. Auch Themen wie die Nachverfolgbarkeit der Lieferkette, Chargenverwaltung, Seriennummernverwaltung und Fälschungssicherheit dringen in mehr Produktbereiche und damit Unternehmen vor. Diese Anforderungen sind papier- und excelgestützt kaum noch zu erfüllen.

 

“Die steigenden Anforderungen des Marktes und die digitalen Fortschritte der Wettbewerber erfordern spätestens in den kommenden Jahren eine Digitalisierung der Lagerprozesse.”
(Günter Dietze)

 

Kira Schmeltzpfenning: Die zunehmende Verknüpfung von Informationen über die Unternehmensgrenzen hinaus bedingt, dass diese Informationen auch im eigenen Unternehmen vorhanden sind. Nur so können zukünftige Herausforderungen wie optimierte Bestandsplanung, Predictive Planning, Vendor Managed Inventory (VMI) und die Einbindung von Daten aus dem Internet der Dinge und der Industrie 4.0 überhaupt ermöglicht werden.

Ein praktisches Beispiel: Der LKW, der Ihre dringend benötigte Ware anliefert, steht im Stau und kommt verspätet an. Erhalten Sie diese Information rechtzeitig und digital, so können Sie die Lieferung an Ihren Kunden noch priorisiert bearbeiten und pünktlich ausliefern oder zumindest Ihrem Kunden frühzeitig einen verbindlichen, neuen Liefertermin zusagen, wenn sich die Verspätung nicht mehr auffangen lässt.

Günter Dietze: Die entscheidende Frage, die hier im Vordergrund stehen sollte, lautet: Können es sich KMU auch in Zukunft noch leisten, auf eine digitale Lagerverwaltung zu verzichten? Die steigenden Anforderungen des Marktes und die digitalen Fortschritte der Wettbewerber erfordern spätestens in den kommenden Jahren eine Digitalisierung der Lagerprozesse, um weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben und bei Wachstum des Unternehmens keinen zusätzlichen Engpass im Lager zu generieren. Die digitale Transformation lässt sich nicht mehr aufhalten und sie wird definitiv nicht vor Ihrem Lager haltmachen.

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Bildquellen: Halfpoint/Fotolia.com (2 x), Fraunhofer IML (Porträts)